Nachgefragt: Was ist eigentlich Systems Engineering?

Was versteht man unter Systems Engineering, warum können Unternehmen in OWL davon profitieren und was hat das alles mit einem neuen it’s OWL Projekt zu tun? Wir fragen Dr.-Ing. Lydia Kaiser, Abteilungsleiterin für Systems Engineering am Fraunhofer IEM.

Seit Beginn des Spitzenclusters it’s OWL in 2012 wird Systems Engineering hier in verschiedenen Initiativen vorangetrieben. Frau Kaiser, für alle Nicht-Ingenieure unter uns: Was ist Systems Engineering?

Systems Engineering ist ein Ansatz für die Realisierung intelligenter technischer Systeme, ganzer Produktionssysteme oder neuer Services. Nötig wird er durch die zunehmende Digitalisierung und Komplexität unserer Produkte, die Ingenieurinnen und Ingenieure vor ganz neue Herausforderungen stellt.

Nehmen wir beispielweise die Autos auf unseren Straßen: schon heute sind sie vernetzt, passen sich ihrer Umgebung an und bieten jede Menge Services. Für morgen planen Autobauer autonome Fahrzeuge – und zwar nicht ausschließlich für den Individualverkehr, sondern für ganz neue Mobilitätskonzepte. Das ist ungemein komplex. Keine Fachdisziplin kann heute mehr von sich behaupten, diese Systeme allein zu entwickeln.

Systems Engineering bietet […] einen interdisziplinären, ganzheitlichen Ansatz, Systeme auch in Zukunft erfolgreich zu entwickeln.

Dr.-Ing. Lydia Kaiser, Abteilungsleiterin für Systems Engineering am Fraunhofer IEM

Hinzu kommen natürlich weitere Faktoren, wie etwa Zeit- und Wettbewerbsdruck und neue, globale Arbeitsformen. Systems Engineering bietet mit einem Bündel an Methoden und Werkzeugen einen interdisziplinären, ganzheitlichen Ansatz, Systeme auch in Zukunft erfolgreich zu entwickeln.

Bei autonomen Fahrzeugen denken viele zuerst an Tesla, das Silicon Valley, vielleicht auch an die großen deutschen Autobauer. Warum aber ist Systems Engineering auch für die Unternehmen in OWL hochrelevant?

Unsere Region ist geprägt vom Maschinenbau, der Elektroindustrie und Automobilzulieferern. In jeder dieser Branchen sind hochkomplexe Produkte ein wichtiger Bestandteil der Wertschöpfung.

Mal ist es die maßangefertigte hochpräzise Werkzeugmaschine, mal ist es die leistungsfähige Steckverbindung, die in OWL entwickelt aber weltweit zum Einsatz kommt – die zunehmende Komplexität durch immer mehr Funktionen und Software ist ihnen allen gemein. Hinzu kommt auch, das OWL eine Region der Hidden Champions ist: Die Produkte der meisten Betriebe sind uns Endkunden nicht bekannt, sie sind aber unverzichtbare Komponenten für Autos, Roboter und Möbel bekannter und erfolgreicher Unternehmen.

Produkte entstehen heute in einer oft verzweigten Wertschöpfungskette mit vielen Anforderungen und Abhängigkeiten.

Dr.-Ing. Lydia Kaiser, Abteilungsleiterin für Systems Engineering am Fraunhofer IEM

Hier wird ein weiterer Aspekt der Komplexität deutlich: Produkte entstehen heute in einer oft verzweigten Wertschöpfungskette mit vielen Anforderungen und Abhängigkeiten. Eine kleine Änderung, zum Beispiel in den Materialeigenschaften eines Bauteils, kann enorm wichtige Auswirkungen auf das Endprodukt haben. Hier liefert Systems Engineering die richtigen Methoden für einen ganzheitlichen Blick auf das Entwicklungsprojekt.

Das heißt, die Unternehmen in OWL setzten auf Systems Engineering?

So einfach ist das leider nicht. In unserer Arbeit der letzten Jahre haben wir einen eindeutigen Bedarf an neuen Engineering-Methoden identifiziert. Die Unternehmen erkennen die Herausforderungen, vor denen ihre Entwicklung schon heute steht und morgen noch viel mehr stehen wird. Allerdings strukturiert man im Tagesgeschäft nicht mal eben seine Entwicklung um!

Seit 2012 wurden mit it’s OWL 29 mehrjährige Innovationsprojekte und 44 drei- bis neunmonatige Transferprojekte im Bereich Systems Engineering umgesetzt.

Dr.-Ing. Lydia Kaiser, Abteilungsleiterin für Systems Engineering am Fraunhofer IEM

Gerade kleinen und mittleren Unternehmen fehlt es oft an Kapazitäten, sich der Einführung neuer Methoden zu widmen. Trotzdem haben wir in den vergangneen Jahren viel erreicht: Seit 2012 wurden mit it’s OWL 29 mehrjährige Innovationsprojekte und 44 drei- bis neunmonatige Transferprojekte im Bereich Systems Engineering umgesetzt. Dazu gehören kleinere Lösungen für Methoden und Werkzeuge, aber auch große strategische Initiativen für die unternehmensweite Einführung. Eine wahre Schatztruhe mit SE-Wissen und Erfahrung!

Eine Schatztruhe mit SE-Wissen und Erfahrung: Im neuen it’s OWL-Projekt SE4OWL soll die wohl nun geplündert werden?

Klar, denn bei Pionierarbeiten soll es nicht blieben! Wir wollen Instrumente schaffen, mit denen auch kleinere Betriebe Systems Engineering ganzheitlich für ihre gesamte Organisation betrachten und langfristig einführen können.

Wir wollen Instrumente schaffen, mit denen auch kleinere Betriebe Systems Engineering ganzheitlich für ihre gesamte Organisation betrachten und langfristig einführen können.

Dr.-Ing. Lydia Kaiser, Abteilungsleiterin für Systems Engineering am Fraunhofer IEM

Wir Plünderer gehen dabei natürlich systematisch und mit wissenschaftlichen Ansätzen vor. Neben dem Fraunhofer IEM arbeiten bei SE4OWL die Unity AG und der SE-Toolanbieter Two Pillars daran, die bisherigen Erkenntnisse strukturiert aufzubereiten und daraus Leitfäden zu entwickeln. Unsere Industriepartner CLAAS, Miele und HARTING Applied Technologies liefern uns dafür mit ihren individuellen SE-Erfahrungen wertvollen Input und machen selbstverständlich kontinuierlich den Praxis-Check. CLAAS und Miele konnten in der Vergangenheit bereits umfangreiche SE-Projekte umsetzen und HARTING Applied Technologies steht als Mittelständler genau vor den eben beschriebenen Herausforderungen.

Wie können andere Unternehmen aus OWL mitmachen?

Betriebe profitieren von SE4OWL künftig in Form von Leitfäden und Methoden. Ein SE-Demonstrator liefert praktische Umsetzungstipps. Außerdem haben alle SE-Interessierten die Möglichkeit, ihre Erfahrungen in der Fachgruppe Systems Engineering auszutauschen, die sich übrigens seit 2014 regelmäßig trifft.

Wir freuen uns schon auf den nächsten Termin nach der Corona-Krise und diskutieren derweil in Webinaren über aktuelle SE-Themen. Ganz neu ist auch unsere Website SElive: Hier bündeln wir Wissenswertes, Trends und Erfolgsgeschichten aus unserem ostwestfälischen SE-Universum – und darüber hinaus. Wer Lust hat zu schmökern, findet die Website unter www.selive.de. Auch eine konkrete Zusammenarbeit mit ostwestfälischen Forschungseinrichtungen über mehrere Monate ist möglich, in der Raum für individuelle Fragestellungen ist. Wer hier Interesse hat, kann sich an Lukas Bretz vom Fraunhofer IEM wenden (E-Mail senden).

Vielen Dank, Frau Kaiser, und viel Erfolg im Projekt SE4OWL.

Systems Engineering für OWL (SE4OWL) ist ein Verbundvorhaben im Rahmen des Technologienetzwerks it’s OWL finanziert durch Landesmittel des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. In einer dreijährigen Förderphase (2020-2023) entsteht ein Instrumentarium zur unternehmensweiten Einführung und Verstetigung von Systems Engineering im Mittelstand. Das Projekt hat drei Handlungsfelder, Stakeholder-gerechte Methoden- und Werkzeuganpassungen, ITS-gerechte Engineering-Strukturen sowie die individuelle und organisatorische Akzeptanz von Systems Engineering und stellt einen mittelstandsgerechten Transfer der Ergebnisse sicher.

Hier geht’s zur Website für Systems Engineering aus OWL

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